Die Heiligen erfahren in den dargestellten Momenten etwas, das nur ihnen vorbehalten ist: sie erblicken das Göttliche von Angesicht zu Angesicht.
Im Frühbarock war man der Meinung, dass Visionen nicht nur beim Meditieren, sondern auch beim Betrachten von Kunstwerken ausgelöst werden können. Viele Gemälde zeigen Heilige in Trance oder Ekstase. Sie möchten die Betrachter dazu anregen, es ihnen nachzutun.
Der heilige Franziskus neigt sich über die Heilige Schrift und scheint ganz in die Zeilen versunken. Caravaggio setzt den Kontrast von Hell und Dunkel ein, um die Heilige Schrift als Lichtquelle zu zeigen. Franziskus wird also durch die Aufnahme des Wortes erleuchtet.
Michelangelo Merisi da Caravaggio
(Mailand 1571–1610 Porto Ercole)
Der hl. Franziskus in Meditation
Um 1605/06
Leinwand, 130 × 90 cm
Cremona, Museo Civico Ala Ponzone,
Inv.-Nr. 234
Maria Magdalena, hier dargestellt von Guercino, meditiert direkt am leeren Grab Jesu über seinen Leidensweg. Sie ist in Gesellschaft von zwei göttlichen Wesen, den Engeln.
Giovanni Francesco Barbieri,
genannt Guercino
(Cento 1591–1666 Bologna)
Maria Magdalena mit zwei Engeln
1622
Leinwand, 222 × 200 cm
Città del Vaticano
Musei Vaticani, Inv.-Nr. 391
Artemisia Gentileschi bringt uns Maria Magdalena so nahe, dass wir befürchten, in diesem intimen Moment vielleicht zu stören. Ihre roten Wangen zeigen die Verzückung, die sie im Inneren fühlt. Ihre göttliche Vision wird zur körperlichen, erotischen Erfahrung.
Artemisia Gentileschi
(Rom 1593 – um 1654 Neapel)
Maria Magdalena in Ekstase
1620/25
Leinwand, 81 × 105 cm
Privatsammlung
Die Heiligen nehmen in den dargestellten Momenten etwas wahr, das nur ihnen vorbehalten ist: sie erblicken das Göttliche von Angesicht zu Angesicht. Wir Menschen, so das barocke Verständnis, werden erst im Jenseits die Möglichkeit haben, dies erleben zu dürfen.
Aber zumindest können wir diese Momente durch das Betrachten der Kunstwerke miterleben. Denn ekstatische Verzückung und körperliche Entrückung werden im Barock zu beliebten Bildthemen.
Ein sehr bekanntes Beispiel hierfür befindet sich in der Cornaro-Kapelle in Rom: Bernini inszenierte hier die Ekstase der heiligen Theresa von Ávila gleich einer Theaterszene.
Gian Lorenzo Bernini
(Neapel 1598–1680 Rom)
Die Verzückung der hl. Teresa von Ávila
Rom, 1647
Terrakotta, H. 47 cm
Sankt Petersburg, Staatliches Museum
Eremitage, Inv.-Nr. 619
Und auch die Frage nach dem Sehen und Nicht-Sehen zog in die Kunst ein: Welche der vielen Figuren in Caravaggios Rosenkranzmadonna sehen Maria und ihr Kind überhaupt?
Michelangelo Merisi da Caravaggio
(Mailand 1571–1610 Porto Ercole)
Rosenkranzmadonna
Um 1601/03
Leinwand, 364,5 × 249,5 cm
Wien, Kunsthistorisches Museum,
Inv.-Nr. 147
Die bildliche Umsetzung von Ekstase und Vision als göttliche Erfahrung war eine besondere Herausforderung für die KünstlerInnen, galt es doch, innere Vorgänge als äußere Bewegungen zu visualisieren. Das ist naturgemäß ein schwieriges Unterfangen. Aber es ist Caravaggio und seinen NachfolgerInnen gelungen: Die besonders lebendige und emotionale Darstellung vermag uns BetrachterInnen damals wie heute zu bewegen.