Passione & Compassione

Leid und Mitleid

Was empfinden wir beim Anblick von Caravaggios „Dornenkrönung Christi“?

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts gab es für KünstlerInnen in Rom eine besondere Herausforderung: Sie sollten den BetrachterInnen ihrer Kunstwerke dazu bewegen, Mitleid zu empfinden. Diese Anteilnahme wurde als Compassione bezeichnet.

Caravaggio holt uns mitten in die Szene

Die Dornenkrönung wurde oft dargestellt. Aber Caravaggio holt uns mitten in die Szene und lässt uns nicht wegsehen. Diese Dramatik und Emotion waren vollkommen neu.

Beim Anblick der Dornenkrönung sind wir sehr nah am Geschehen. Dramaturgisch verstärkt Caravaggio dieses Gefühl durch den Beobachter, der uns den Rücken zukehrt. Malerisch perfekt stellt er die Lichtreflexe auf seiner metallenen Rüstung dar.

Und die Rüstung ist auch ein spannendes Detail: denn zu der Zeit, als die christliche Szene spielt, gab es keine solchen Rüstungen. Caravaggio zeigt uns einen Betrachter, der aus seiner eigenen Zeit stammt: einen Zeitgenossen.

Typisch für Caravaggio und die Caravaggisten ist die besondere Lichtführung. Im Zentrum des Bildes wird der verwundbare Nacken Christi hell beleuchtet. Christus ist Blicken und Hieben ausgeliefert und wirkt in seiner Nacktheit besonders verletzlich, vor allem im Vergleich zur schützenden Rüstung des Beobachters.

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Michelangelo Merisi da Caravaggio
(Mailand 1571–1610 Porto Ercole)
Dornenkrönung Christi
Um 1603
Leinwand, 127 × 166 cm
Wien, Kunsthistorisches Museum,
Inv.-Nr. GG 307

Ein Kunstwerk aus dieser Zeit wurde vor allem daran gemessen, ob es Mitleid in der Betrachterin oder im Betrachter auslösen kann. Das Motiv der Pietà wurde dafür oft eingesetzt.

Maria, ohnmächtig zurückgesunken, scheint sich mit dem Tod angesteckt zu haben.

Annibale Carracci, der in Bologna geboren wurde und später ebenfalls in Rom als Künstler tätig war, schuf um 1603 dieses kostbare Werk und wählte dafür ein besonders kleines Format. Es ist eine Pietà, die sehr stark wirkt und viele Emotionen erweckt. Carracci malte auf Kupfer. Seine Pietà zieht uns schon durch das kleine Format an: denn um die Details zu erkennen, müssen wir nah an das Bild herantreten.

Der Körper des toten Christus ist sehr realistisch dargestellt. Mit dem letzten Atemzug ist seine Hand aus der seiner Mutter geglitten.

Maria, ohnmächtig zurückgesunken, scheint sich mit dem Tod angesteckt zu haben und ihrem Sohn zu folgen: Ihre Haut ist ebenfalls bläulich.

Die  farbliche Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn ist berührend.

Die bestürzten, aber sichtlich lebendigeren Engel bilden dazu mit ihren roten Backen einen starken Kontrast.

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Annibale Carracci
(Bologna 1560–1609 Rom)
Pietà
Um 1603
Kupfertafel, 43 × 62,5 cm
Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 230

Ab dem Mittelalter förderte die christliche Kirche das Verinnerlichen des Leidensweges, der Passion Christi. Zuvor war das Innen-bewegt-Werden eher ein Störfaktor für die „Ruhe des Weisen“. Nun wurde der Gedanke einer leidenden Überwindung der Welt immer stärker.

Sebastians linke Hand ist bereits geöffnet: ein Zeichen für seine Ergebung.

Was Caravaggio und Carracci mit der Malerei auslösen, das schafft Bernini mindestens ebenso effektvoll mit seiner Bildhauerei.

In diesem Beispiel wird Stein zu Fleisch. Der gerade noch lebendige, von Pfeilen durchbohrte Sebastian scheint noch zu atmen.

Mit bereits geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund lehnt Sebastian sein Haupt erschöpft nach hinten.

Noch lebt Sebastian. Das erkennen wir an den feinen Adern, durch die noch Blut fließt.

Sebastians linke Hand ist jedoch bereits geöffnet: ein Zeichen für seine Ergebung.

Genau wie wir fühlten der Heiligenlegende zufolge mehrere Frauen Mitleid für Sebastian. Sie nahmen ihn mit, um ihn zu versorgen. 

Bernini löst bei uns Betrachtern jene compassione, jenes Mitleid aus, das die Frauen beim Auffinden des halbtoten Sebastian fühlten. Damit zeigte er sein Können auf höchstem Niveau.

3

Gian Lorenzo Bernini
(Neapel 1598–1680 Rom)
Hl. Sebastian
Rom, 1617
Marmor, H. 98,8 cm
Privatsammlung;
als Leihgabe im Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid

Zur Zeit Caravaggios wurden Kunstwerke also daran gemessen, ob es ihnen gelang, den Betrachter durch Affekte zu berühren. Caravaggio, Bernini und ihre Nachfolger taten dies nicht nur damals: Noch heute wecken sie Emotionen in uns.