Das Ziel des Dichters ist das Wunderbare…
Zu Caravaggios Zeit spielte das innere Seelenleben eine große Rolle. Im 17. Jahrhundert drehte sich alles um Emotionen. Nicht nur in Malerei und Skulptur, sondern auch in Dichtung und Musik.
Caravaggio, Bernini und ihre Gleichgesinnten setzten einige spezielle Kunstgriffe ein, um Affekte darzustellen und Emotionen in den Betrachterinnen und Betrachtern auszulösen. Zu diesen Kunstgriffen gehörten komplexe Körperhaltungen, Gesichtsausdrücke und Blicke sowie Lichterscheinungen, Farben und bewegte Gewänder.
Und die Künstler zeigen nicht nur das Staunen und Wundern in den Gesichtern ihrer Figuren. Sie zielen auch bewusst darauf ab, uns BetrachterInnen zum Mitstaunen zu bringen.
Zum Beispiel Caravaggios Narziss. Er hat das Spiegelbild im Wasser noch nicht als das seine erkannt. In Narziss‘ Blick zeigt Caravaggio uns sowohl seine Verwunderung und Faszination als auch die zärtliche Verliebtheit in sein eigenes Antlitz im Wasser.
Michelangelo Merisi da Caravaggio
(Mailand 1571–1610 Porto Ercole)
Narziss
Um 1600
Leinwand, 113,3 × 94 cm
Rom, Gallerie Nazionali d’Arte Antica,
Palazzo Barberini, Inv.-Nr. 1569,
Geschenk von Vasilij Bogdanovič
Khvoschinskij, 1916
Berninis Medusa ist das Erschrecken über ihren unerwarteten Tod an den marmornen Gesichtszügen abzulesen. Gleichzeitig wirkt sie so lebendig, dass der/die Betrachterin fürchten muss, selbst im nächsten Moment durch ihren Blick versteinert zu werden.
Gian Lorenzo Bernini
(Neapel 1598–1680 Rom)
Medusa
Rom, 1638–1640
Marmor mit Spuren einer ursprünglichen Patina, H. 46 cm
Rom, Musei Capitolini, Palazzo dei Conservatori, Inv.-Nr. MC 1166
Francesco Mochi meißelte aus Marmor einen Jüngling, dem die Verwunderung ins Gesicht geschrieben steht. Virtuos hebt sich eine Locke von seiner Stirn ab. Mochi erweckt den Marmor zum Leben.
Francesco Mochi
(Montevarchi 1580–1654 Rom)
Jüngling (Johannes der Täufer oder der Erzengel Gabriel ?)
Rom, um 1605/10
Carrara-Marmor, H. 40,5 cm; Sockel: schwarzer Marmor
Chicago, Art Institute of Chicago,
Inv.-Nr. 1989.1; erworben dank einer zweckgebundenen Spende von Mrs Harold T. Martin durch die Antiquarian Society, die Major Acquisitions Centennial Endowment, eine vorherige Spende von Arthur Rubloff, und dem European Decorative Arts Purchase Fund
In seinem Gemälde Knabe, von einer Eidechse gebissen erkundete Caravaggio mehrere widersprüchliche Gefühlsregungen gleichzeitig: Lust und Ekel, Schmerz und Überraschung, Entsetzen und Schock.
Michelangelo Merisi da Caravaggio
(Mailand 1571–1610 Porto Ercole)
Knabe, von einer Eidechse gebissen
Um 1597/98
Leinwand, 65,8 × 49,5 cm
Florenz, Fondazione di Studi die Storia dell’Arte Roberto Longhi, Inv.-Nr. 1980 N.78
In der Literatur wurden das Wunderbare (meraviglia) und das damit verknüpfte Staunen (stupore) zu Schlüsselbegriffen. Der Poet Giambattista Marino erklärte sie zu zentralen Kriterien der Beurteilung von Dichtung:
Das Ziel des Dichters ist das Wunderbare, ich spreche vom Meister, nicht vom Stümper. Wer nicht Staunen machen kann, dessen Platz ist im Stall.